Michael Wermke

Dekan der Theologischen Fakultät

CMM: Können Sie sich erinnern, wann und bei welchem Anlass Sie das erste Mal gesehen haben, dass ein universitärer Talar getragen wurde? 

MW: Das wird 2011 gewesen sein, als ich das erste Mal als Dekan bei einer feierlichen Immatrikulationsfeier einen Talar trug. 

CMM: Welche Gedanken bewegten Sie dabei? 

MW: Beim Einkleiden dachte ich, dass der Talar ganz gut sitzt. Nur dieses Barett ist zu klein. 

CMM: Sie haben in Berlin und in Göttingen studiert. Sind Ihnen da auch Talare begegnet?

MW: Nein. Wie es auch meines Wissens keine Tradition einer feierlichen Immatrikulation gab. Dazu war zur damaligen Zeit das Verhältnis zu solchen Anlässen rein pragmatisch. Das war sehr würdelos. Also nicht entwürdigend, aber ohne Würde. Als seien es Selbstverständlichkeiten, sowohl bei dem Wechsel vom Schüler:innendasein ins Studierendendasein als auch am Ende eines erfolgreichen Studiums. Ich finde, das sind schon ziemlich gravierende biographische Einschnitte, die in angemessener Weise begangen werden sollten. 

CMM: Sie sind auch Theologe und tragen einen Talar bei kirchlichen Amtshandlungen. 

MW: Ja, weil ich nicht ordiniert bin, ist es keine Pflicht. Aber es ist die gute Regel, dass ich einen Talar trage, wenn ich die Predigt halte. Da geht es um das Wort Gottes, das ich als Christ, der die Bibel zu lesen und auszulegen versteht, im Auftrag der Gemeinde verkündige. Das heißt, ich stehe nicht nur als Privatperson auf der Kanzel, sondern erfülle einen Auftrag in einer bestimmten Funktion. Tät ich dies beispielsweise in Freizeitkleidung, entstünde eine unangemessene Rollenvermischung. 

CMM: Gehen wir zurück zur Immatrikulation. Welche Assoziationen verbinden Sie mit der feierlichen Immatrikulation? 

MW: Spannend finde ich den konkreten Moment, wenn wir vor Beginn der Feier in unsere Talare schlüpfen. Diese wenigen Minuten sind immer mit einem Moment der Unsicherheit verknüpft: Wenn ich in unserem ‚Vorbereitungsraum‘ im Volkshaus meine Jacke ausziehe, vielleicht noch mal ein Hemd richtete und nach dem Talar greife, befinde ich mich in einer kommunikativen Situation, die sich von den üblichen Situationen meines universitären Alltags unterscheidet. Da werden bestimmte Regeln des gemeinsamen Umgangs, die normalerweise gelten, für einen kurzen Moment aufgehoben. Dafür gibt es keine Verhaltensregeln; die müssten wir praktisch selbst erfinden. Dieses Verunsichernde hat aber auch etwas Befreiendes: Wenn wir uns umziehen, wird ja viel gesprochen, gelacht, Scherze gemacht. Beides hängt zusammen, sowohl dieses Verunsichernde als auch diese Verwandlung im Moment des Umkleidens. Ich gehe als Privatmensch in die ‚Umkleidekabine‘ hinein und komme als Dekan wieder heraus. 

CMM: Wie fühlten Sie sich, als Sie das erste Mal bei der feierlichen Immatrikulation durch den Festsaal des Volkshauses schritten?

MW: So ganz wohl fühle ich mich dabei nicht. Wahrscheinlich ist die Frage, ob ich dem Auftrag, den ich übernommen habe, auch in angemessener Weise gerecht werde. 

CMM: Fallen Ihnen noch Aspekte ein, über die wir nicht gesprochen haben?

MW: Da ist diese Überlegung zum Fluss der Zeit, von dem wir so mitgetrieben werden und der uns zu selten Gelegenheit bietet, Abstand zu gewinnen, um uns selbst gewahr zu werden. Rituale sind wie kleine Inseln in diesem Fluss, auf denen wir innenhalten können, an denen wir uns orientieren können, wo wir uns befinden und wie es weitergehen wird! Rituale sind wichtig, aber wir reden selten über sie. Gerade nun Ihre Ausstellung eröffnet die Chance, über die Bedeutung von Ritualen in einem sich offenbar doch beschleunigenden Fluss der Zeit nachdenken zu können. Ich glaube, dies ist wichtig, damit wir uns als modernen Gesellschaft, der lebensdienlichen Bedeutung von Ritualen bewusster werden können. Das schließt eben ein, Rituale zu kritisieren, zu verändern oder abzuschaffen. Zugleich geht es aber darum, ein besseres Verständnis von Ritualen zu gewinnen und zu erkennen, warum sie eigentlich gut für uns sind. 


Das Interview führte Claudia-Maria Maruschke, Studentin der Volkskunde und Kulturgeschichte.